Mittwoch, 4. Oktober 2006

Einblicke in Abgründe.

Vor einer Weile habe ich schon einmal einen Bericht zu einem ähnlichen Thema gepostet. Heute wurde ich aber so geballt mit den Abgründen der Menschheit konfrontiert, dass ich mir einen weiteren Bericht nicht verkneifen kann.

Der Wecker klingelte um 7:30 Uhr nach geschätzten dreieinhalb Stunden Schlaf. Das war aber selbst auferlegt, denn Chia und ich hatten geplant, uns eine Gerichtsverhandlung im Landgericht anzusehen. Und damit haben wir den Tag mit einem Erlebnis eingeläutet, das alleine schon genügt hätte, drei weitere Tage über das Schlechte im Menschen zu diskutieren.

Da saß dieser Mann Ende zwanzig neben seiner kaum älteren, adretten Anwältin, verurteilt wegen dreifachen Mordes und erneut angeklagt wegen eines Sexualdeliktes, und zeigte keine Regung, als der Tathergang der von ihm begangenen Morde noch einmal detailliert geschildert wurde. Ein Mann, den ich auf der Straße eher übersehen, als dass ich mich vor ihm geängstigt hätte, der drei Männer aus Habgier auf niederträchtigste und brutalste Art und Weise aus dem Leben gerissen hat. Ich versuchte krampfhaft, mir die Tathergänge mit ihm als Protagonisten vorzustellen - und bin gescheitert. Dass ein Mensch - dieser Mensch, der dort vor mir saß und so ekelhaft normal aussah - zu solcher Grausamkeit fähig ist, übersteigt meine Vorstellungskraft.

Die anschließende Zugfahrt nach Koblenz mit dem Ziel IKEA haben Chia und ich dann diskutierend und philosophierend verbracht - und haben vor allem das thematisiert, was uns in den folgenden Stunden anschaulich bewiesen wurde:
Die Chancenlosigkeit vieler Kinder dieses Landes, die in Familien geboren werden, die entweder keine Familien mehr sind oder sich nicht für ihre Kleinen interessieren. Mit weitreichenden Konsequenzen.

Um nur die prägnantesten Momente aufzuführen:

Auf der Treppe im Hauptbahnhof Koblenz stauen sich die Reisenden, es geht kaum voran. Grund ist eine alte Dame, die beim Treppenabstieg mit sich und ihrem kleinen Koffer kämpft. Die jüngeren Menschen drängen sich an ihr vorbei, rempeln sich gegenseitig an - schnell vorbei an dem Hindernis. Als Chia die Dame fragt, ob sie ihr helfen könne und ihr den Koffer aus der Hand nimmt, erntet sie einen Blick grenzenlosen Erstaunens und ein erleichtertes Lächeln. Das Hilfsangebot war offensichtlich keine Selbstverständlichkeit.

In den Bus von IKEA zurück Richtung Innenstadt steigen drei Mädchen ein. Noch unfertiger Körperbau, modisch knapp bekleidet, Glitzer und Schmuck vom Haar bis zu den Schuhspitzen, vorm Einsteigen noch schnell die Zigarette weggeschnippt - und den Kinderwagen in den Bus gehievt. Die Kinderwagenbesitzerin schätzen Chia und ich großzügig auf gerade mal 15, das Baby ist ungefähr sechs Monate alt. Zwei der Mädchen setzen sich schon mal mit aufgedrehtem Mp3-Player hinter uns auf die Rückbank, die kindliche Mama klemmt ihr Kleines wie einen Gegenstand unter den Arm und setzt sich dazu. Als der Säugling anfängt zu schreien, bekommt er einen Lutscher. Chia und ich wechseln stumm entsetzte Blicke.

Abends zurück in Trier der krönende Abschluss - wieder im Bus. Links von uns unterhalten sich zwei Teenies über das Fremdgehen des Freundes der einen, wobei jedes zweite Wort "ficken" und jedes dritte "Fresse" ist, und klar wird, dass sich eine der beiden schon eine Anzeige wegen einer Schlägerei eingefangen hat. Und auch in dem Gespräch der Halbwüchsigen rechts von uns geht es primär ums "in die Fresse schlagen", sekundär um Alkohol und am wichtigsten ist bei jeder Anekdote die Rückfrage "Hat einer geblutet?".

Unser Tag war nicht schlecht. Im Grunde war er sogar ausgesprochen gut. Wir haben unser Wissen über die deutsche Justiz erweitert, interessante Gespräche geführt, IKEA leer gekauft, gealbert und gelacht. Aber diese Momente, in denen wir vor Augen geführt bekamen, wie anders sich ein Leben gestalten kann, haben uns heute auch verdammt nachdenklich gestimmt.

Und wir waren uns einig als wir feststellten, dass wir gesegnet sind mit unseren Familien, überzeugt sind von unserer - manchmal als naiv oder süß belächelten - Moral und hoffen, dass es auf dieser Welt noch ein paar mehr Menschen gibt, die alten Damen ihre Koffer tragen.

Miss Whatever

"Das ist meine Weltanschauung, wer aber die gegenteilige hat kann weise sein, sagt der Weise. Das ist meine Weltanschauung, und wer eine andere hat ist ein Tor, sagt der Tor." (Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach, 1830 - 1916)

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